Gericht kippt Wahlgesetz in NRW

Die Ersetzung des bisher bei Kommunalwahlen angewendeten Sitzzuteilungsverfahrens nach Sainte-Laguë durch ein Quotenverfahren mit prozentualem Restausgleich (sog. Rock-Verfahren) verletzt die Antragstellerinnen – Landesverbände verschiedener politischer Parteien – in ihren verfassungsrechtlich gewährleisteten Rechten auf Chancengleichheit als politische Partei und auf Gleichheit der Wahl. Das hat der Verfassungsgerichtshof für das Land Nordrhein-Westfalen in Münster mit heute verkündeten Urteilen entschieden.
Sachverhalt
Der Landtag Nordrhein-Westfalen (Antragsgegner) beschloss am 4. Juli 2024 das Gesetz zur Änderung des Kommunalwahlgesetzes und weiterer wahlbezogener Vorschriften. Die hierdurch in § 33 Abs. 2 des Kommunalwahlgesetzes (KWahlG) für die Sitzverteilung vorgesehene Einführung des sog. Rock-Verfahrens sollte nach der Gesetzesbegründung extreme Verzerrungen der Sitzzuteilung sowie überproportionale Rundungsgewinne kleiner Parteien reduzieren und dadurch die Erfolgswertgleichheit der Stimmen gegenüber dem bisher angewandten Divisorverfahren mit Standardrundung nach Sainte-Laguë/Schepers verbessern. Mit ihren hiergegen eingeleiteten Organstreitverfahren machten die Antragstellerinnen hingegen geltend, sie würden durch diese Änderung der Sitzverteilung in ihren Rechten auf Chancengleichheit als politische Partei und auf Gleichheit der Wahl verletzt.
Wesentliche Erwägungen des Verfassungsgerichtshofs
Der den Anträgen stattgebenden Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zugrunde:
Der Systemwechsel bei der Sitzzuteilung ist mit dem Recht der Antragstellerinnen auf chancengleiche Teilnahme an den Kommunalwahlen aus Art. 21 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) in Verbindung mit Art. 2 der Landesverfassung (LV) und auf Gleichheit der Wahl aus Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG, Art. 78 Abs. 1 Satz 2 LV nicht vereinbar, weil er sachlich nicht gerechtfertigt ist.
Der Landesgesetzgeber kann sich nicht auf seine Gestaltungsfreiheit berufen, denn diese ist durch eine Rechtfertigungslast eingeschränkt. Dieser ist der Landesgesetzgeber nicht nachgekommen. Die Modifizierung führt zu einer (zusätzlichen) Erfolgswertungleichheit, zielt aber nicht darauf, eine im bisherigen Berechnungsverfahren angelegte, aber über das Normalmaß hinausgehende Ungleichgewichtigkeit zu beseitigen. Neben der vom Urheber des neuen Verfahrens selbst eingeräumten Erhöhung der ″faktischen Sperrwirkung″ rechtfertigen die im Verfahren vorgelegten und nicht durchgreifend in Zweifel gezogenen mathematischen Berechnungen die Annahme, dass die Neuregelung kleinere Parteien systematisch benachteiligt, indem sie Aufrundungsgewinne allein den großen Parteien zuweist und Abkehr nimmt von dem zuvor allgemein als ausgewogen beschriebenen System, bei dem es mehr oder weniger zufallsabhängig war, ob einer Partei ″Rundungsglück″ oder ″Rundungspech″ zuteilwurde.
Die (zusätzliche) Erfolgswertungleichheit des modifizierten Sitzzuteilungsverfahrens ist auch nicht deshalb verfassungsrechtlich unbedenklich, weil dafür ein ″zwingender″ Grund vorliegen würde.
Abweichende Meinung des Vizepräsidenten Prof. Dr. Heusch sowie der Richter Prof. Dr. Grzeszick und Dr. Nedden-Boeger
Vizepräsident Prof. Dr. Heusch und die Richter Prof. Dr. Grzeszick und Dr. Nedden-Boeger haben ein Sondervotum abgegeben. Das sog. Rock-Verfahren sei in der Gesamtbetrachtung ein verfassungsrechtlich unbedenkliches Berechnungssystem. Das Rock-Verfahren vermeide die bei Kommunalwahlen bislang regelmäßig auftretenden relativ überproportionalen Rundungsgewinne kleiner Parteien. Der Verweis der entscheidungstragenden Mehrheit darauf, dass es nicht auf einzelne Rundungsgewinne ankomme, sondern auf das Maß, in dem sich ein Sitzzuteilungsverfahren der Erfolgswertgleichheit annähere, was durch einen generellen Vergleich ermittelt werden könne, und dass den Aufrundungsgewinnen beim Verfahren nach Sainte-Laguë/Schepers ebenso Abrundungsgewinne bzw. -verluste gegenüberstünden, überzeuge nicht. Zudem weiche der von der entscheidungstragenden Mehrheit angenommene Maßstab vom in der Rechtsprechung auch des Bundesverfassungsgerichts etablierten Entscheidungsmaßstab ab. Mit dem neuen Zuteilungsverfahren werde die Quotenbedingung optimal erfüllt und bezüglich der Restsitze der relative Abstand zwischen Idealanspruch und tatsächlichen Sitzen minimiert. Das führe im Ergebnis wenn auch nicht zu einer – bei Reststimmen ohnehin nicht zu erreichenden – absoluten, so doch zu einer recht hohen Erfolgswertgleichheit der Stimmen.
(Foto: Christiane Lang)
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